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Drahtseilakt

Reportage: Ein ziemlich gesprächiger Vormittag im OP

Drahtseilakt

Ein ziemlich gesprächiger Vormittag im OP.

600 Gehirnoperationen werden pro Jahr in der München Klinik Bogenhausen durchgeführt. Manchmal muss die Patientin oder der Patient dabei wach bleiben – und aus seinem Leben erzählen. Eine Reportage über eine Operation, bei der der Patient einen überraschend aktiven Part übernimmt.

Josef, wach auf!

10.25 Uhr - Ein großes Team steht im OP bereit: Neurochirurgen, Anästhesiologen, OP-Pflege und Anästhesie-Pflege. Nur einer schläft noch.

Alle warten auf Josef Bachinger (Name geändert). Es ist Mittwochmorgen und das neunköpfige Team im OP wäre bereit für den ersten neurochirurgischen Eingriff des Tages. Der Patient aber ist es nicht. Anästhesiologe Oberarzt Dr. Alexander Rieß, einer von zwei Narkoseärzten im OP, versucht, mit sanften Berührungen und vorsichtigen „Josef, wach auf“-Rufen den Patienten aus der Narkose zu holen. Der 71-Jährige reagiert nicht. Dann schließlich, um 10.35 Uhr, fängt der Rentner aus einem kleinen Ort bei Neufahrn an, die Hände zu bewegen, und öffnet die Augen.

Eine OP, bei der der Patient extra vor dem Eingriff geweckt wird? Das kommt in der München Klinik Bogenhausen mehrere Male im Jahr vor: nämlich immer dann, wenn aus medizinischen Gründen eine Wach-OP durchgeführt werden muss. So wie bei Josef Bachinger. Der Rentner hat einen Tumor am für Sprache zuständigen Bereich des Gehirns. Um keine wichtigen Gehirnareale zu beschädigen, muss der Patient während des Eingriffs mithelfen. Bei der Berührung falscher Stellen gerät seine Sprache ins Stocken und würde schnell aussetzen. Anhand des Sprachverlaufs während der OP erkennt der Chirurg, wo geschnitten werden darf – und wo nicht. Josef Bachinger wird keine Schmerzen spüren, er ist lokal betäubt. Auch Herz- und Lungeneingriffe können als Wach-OP durchgeführt werden.

7.45 Uhr - Schon die Vorbereitungen auf die Wach-OP sind anders

Die Vorbereitung für den Eingriff beginnt um 7.45 Uhr. Schon die Narkose unterscheidet sich von den anderen rund 10.000 Operationen, die jährlich in Bogenhausen durchgeführt werden. Josef Bachinger erhält kein Mittel zur Muskelentspannung und keinen Tubus.

„Bei Wach-OPs verwenden wir stattdessen eine Kehlkopfmaske. Diese kann vor der OP problemlos entfernt werden, so ist der Patient in der Lage zu sprechen.“
Prof. Dr. Patrick Friederich, Chef-Anästhesiologe

Um 8.35 Uhr rollt Bachinger in den Operationssaal und wird vom Neurochirurgenteam vorbereitet. Zunächst legt es seinen Körper auf eine Liege und fixiert dann den Kopf, damit Josef Bachinger den Schädel im Wachzustand nicht bewegen kann. Sein Kopf und seine Hände sind verkabelt, so ist es möglich, Sensorik und Motorik zu überwachen. Eine transparente Plastikfolie trennt die Operateure und Josef Bachinger voneinander, nur der betreffende Bereich des Schädels ist für die Neurochirurgen durch ein Loch in der Folie zugänglich.

Kurz vor 10 Uhr - Oberarzt Dr. Meier öffnet den Kopf

Dr. Michael Meier beginnt mit der Öffnung des Kopfes. Eine Kamera über dem OP-Tisch überträgt die Position des Schädels auf einen Monitor. Dort ist auch ein Tiefenscan des Kopfes zu sehen, der die genaue Lage des Tumors anzeigt. Meier setzt einen halbkreisförmigen Schnitt, klappt die Kopfhaut weg und legt den Knochen frei. Dann bohrt er ein Loch in den Schädel und sägt danach ein ovales Stück Knochen heraus, das für die Dauer der OP in Wasser gelagert wird. Es riecht ein wenig nach verbrannten Sägespänen. Zuletzt klappt er die Gehirnhaut um. Das pulsierende Gehirn ist zu sehen.

Was ist das, Josef?

10.40 Uhr - Patient wach, OP läuft

Josef Bachinger ist mittlerweile zu 80 Prozent wach, er befindet sich in einem Bereich zwischen Dämmern und Klarheit. Manche Wach-OP-Patienten können sich später sogar an ihre Operation erinnern. „Januar, Februar, März …“ Auf die freundliche Bitte von Anästhesiologe Rieß zählt Josef Bachinger erst Monate, Zahlen und Wochentage auf. Und kommt dabei durcheinander. „Wie geht es nach März weiter?“ „4, 5, 6.“ Was kommt nach Dienstag? „März, April, Mai.“ Bachinger ist ein Grenzfall für eine Wach-OP. Er hatte schon vor dem Eingriff Wortfindungsprobleme, weshalb sein Tumor überhaupt entdeckt wurde. Sprechen klappt zwar, reflektiertes Antworten aber nicht, vor allem beim Bilderkennungstest. Rieß zeigt Josef Bachinger Zeichnungen von Gegenständen: Auto, Flugzeug, Hammer und andere Dinge. „Was ist das, Josef?“ Manchmal weiß er die Antwort, dann wieder nicht.

Was tun? Liegt es an den bekannten Sprachstörungen oder an den Neurochirurgen, die bereits das offene Gehirn an unterschiedlichen Stellen vorsichtig stimulieren? Das Team entscheidet sich, mit dem Eingriff zu beginnen. Rieß wird während der gesamten OP-Dauer mit Josef Bachinger reden, über dessen bisheriges Leben. Um beurteilen zu können, ob er korrekt antwortet, hat Rieß am Vortag ein intensives Gespräch mit Josef geführt – über Familie, Beruf und soziales Umfeld.

Blutdruck: 148 zu 63 - Josef Bachinger ist in Plauderlaune

„Der Patient muss bei dieser OP vollstes Vertrauen zum Anästhesisten haben.“
Prof. Dr. Patrick Friederich

Die zu operierende Stelle wird nochmals lokal betäubt. Es kann losgehen. Chef-Neurochirurg Prof. Dr. Jens Lehmberg, der, assistiert von Kollege Meier, operieren wird, hält eine Art elektronischen Zeigestab an das Hirnareal. Auf dem Monitor zeigt sich die digitale Fortführung des Pointers ins Gehirninnere. So ist zu erkennen, ob der Winkel stimmt und auf den Tumor zeigt. Nun schauen die beiden durch ein Mikroskop über dem OP-Tisch.

Vorsichtige Stromstöße stimulieren millimetergenau das Gehirn. Keine Reaktion. Josef Bachinger erzählt unbeeindruckt weiter: von Katze Helene, vom Skifahren im Zillertal und von seinem 70 Meter langen Garten. Während Lehmberg vorsichtig ins Gewebe schneidet, hört er zusammen mit dem Anästhesiologen Rieß dem Patienten zu. Antwortet er? Ergibt das Gesagte Sinn und passt es zum Vorgespräch? Bald kommt der hühnereigroße Tumor zum Vorschein. Er liegt direkt am Sprachzentrum, so wie erwartet. Pommes und Pizza sind leckere Kinderessen, die langen Radtouren mit dem Kumpel sind toll. Nein, richtig strampeln, kein E-Bike. Josef Bachinger ist in Plauderlaune. Es geht ihm gut.

11.10 Uhr - gut 90 Prozent des Tumorgewebes sind entfernt

Mit einer Art Sauger entfernt Lehmberg vorsichtig das weißliche Tumorgewebe. Den Rand spart er aus. Um 11.10 Uhr sind gut 90 Prozent entfernt. Aufgrund der Lage des Tumors und Josef Bachingers Problemen beim Beantworten der Fragen gilt es zu entscheiden: Soll man komplett entfernen? Kurze Besprechung, schnelle Entscheidung:

„Eine weitere Resektion erhöht die Gefahr, dass wir für die Sprache zuständige Gehirnareale beschädigen.“
erklärt Prof. Dr. Jens Lehmberg, Chefarzt

Würden Herrn Bachingers Antworten das nicht anzeigen? Nicht unbedingt. Der Patient kann zwar korrekte Auskünfte zu seinem bisherigen Leben geben. Bei nicht abgespeicherten Antworten auf Fragen wie im Bildertest lag er jedoch teilweise falsch. Es bleibt ein Restrisiko, das die Ärzte nicht eingehen wollen. Der Tumor des 71-Jährigen ist sehr bösartig. Die mittlere Lebenserwartung eines Patienten mit solch einer Erkrankung beträgt mit maximaler Therapie, bei der unterschiedliche Behandlungsansätze kombiniert werden, zwei Jahre. Ohne Therapie sind es nur drei Monate. Selbst wenn die Ärzte alles entfernen, wird der Tumor wiederkommen.

So, Josef, das warʼs

12 Uhr - OP aus, Patient schließt die Augen

Josef Bachinger wird in seinen letzten Jahren weiter sprechen können. „Es geht nicht nur um Lebenszeit, es geht auch um Lebensqualität“, sagt Lehmberg.

Meier übernimmt wieder, stillt mithilfe von Hirnwatte die Blutung. Ein im geschlossenen Kopf nachblutender Tumorrest wäre lebensbedrohlich. Schließlich schiebt er die Gehirnhaut vorsichtig wieder über die operierte Stelle und verschraubt das Knochenstück mit dem Schädel.

Es ist Punkt 12 Uhr, Josef Bachinger ist gerade bei den Themen Joggen, der Reitbeteiligung seiner Schwägerin und kleinen Küken angekommen. „So, Josef, das warʼs“, sagt Dr. Rieß und streicht noch einmal über die Hand, die er während der ganzen Zeit gehalten hat, „du hast es geschafft.“

Sein Kollege, Oberarzt Dr. Florian Fuchsgruber, leitet ein Schmerzmittel ein. Der Patient schließt die Augen. Die Operation ist zu Ende, jetzt schläft Josef Bachinger ein.

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Neurochirurgie in Bogenhausen

Mit 2.500 komplexen Eingriffen im Jahr gehört die Neurochirurgie in Bogenhausen zu den größten Kliniken in Deutschland. Bei der operativen Therapie von Erkrankungen des Gehirns arbeiten Anästhesiologen und Neurochirurgen als Team eng zusammen.

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